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MERICS Briefs
MERICS China Essentials
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Demografischer Wandel + Exportkontrollen + Global Gateway

Top Thema

Chinas demografischer Wandel stellt Xi vor Herausforderungen

Zum Auftakt des neuen Jahres des Hasen haben Chinas Behörden einen 20-Punkte-Plan veröffentlicht, mit dem unter anderem der demographische Wandel angegangen werden soll. Der Plan sieht unter anderem eine Reform des Haushaltsregistrierungssystems vor, um die Binnenmigration von Arbeitskräften zu erleichtern. Die Änderungen der strengen hukou-Regeln sollen die Integration der Landbevölkerung in Städten verbessern und so zum angestrebten „qualitativ hochwertigen Wachstum“ beitragen. Bislang wurde es Landbewohnern verwehrt, sich dauerhaft in Städten niederzulassen.

Die inzwischen abgeschaffte Ein-Kind-Politik, veränderte Vorstellungen von Familie und die hohen Lebenserhaltungskosten in den Städten haben bewirkt, dass China inzwischen eine der am schnellsten alternden Gesellschaften der Welt hat. Ökonomen schätzen, der Rückgang der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter könnte Chinas Wirtschaftswachstum jährlich um einen Prozentpunkt drücken – das wären umgerechnet etwa 164 Mrd. EUR allein 2022 und 2023. Manche Beobachter erwarten deshalb langfristig einen Abstieg Chinas.  

Neben dem hukou-System muss auch Chinas Rentensystem reformiert und das vergleichsweise niedrige Rentenalter um bis zu zehn Jahre angehoben werden. Aktuell können Frauen bereits mit 50 oder 55 Jahren und Männer mit 60 Jahren in den Ruhestand gehen. Auch Verbesserungen bei Frauenrechten sind überfällig, und das Altenpflegesystem basiert bislang überwiegend auf informellen Lösungen. Diskutiert werden diese Themen bereits seit mehr als einem Jahrzehnt, allerdings bisher ohne substanzielle Verbesserungen.

Als Chinas BIP-Wachstumsraten noch im zweistelligen Bereich lagen, hatten sozial- und steuerpolitische Reformen noch keine Priorität. Die Regierung konnte mit den steigenden Staatseinnahmen die Verbesserung des Lebensstandards und Wohlstandsgewinne finanzieren. Angesichts des niedrigeren Wirtschaftswachstums sind nun Reformen notwendig, um die öffentlichen Ausgaben unter Kontrolle zu halten. Beijing könnte daher etablierte Strukturen in Frage stellen. Neben dem Rentenalter könnte dies auch die Praxis der Kommunal- und Provinzregierungen betreffen, sich für die Kapitalbeschaffung von Kapital auf riskante Immobilien- und Infrastrukturgeschäfte einzulassen. Nach offiziellen Angaben entfallen 50 Prozent der Mittel der Kommunalverwaltungen auf Immobilien.

Beim Übergang vom bevölkerungsreichsten Land der Welt zur Nation mit der größten Bevölkerung über 65 Jahren wird Staats- und Parteichef Xi Jinping Reformen auch gegen Widerstände durchsetzen müssen. Für Chinas mächtigsten Staatschef seit Jahrzehnten wird das eine Herausforderung, denn die öffentlichen Kassen sind nach drei Jahren der Null-Covid-Politik leer.

MERICS-Analyse: „Reformen zum Umgang mit einem alternden China sind eine Bewährungsprobe für Xi", sagt MERICS-Analyst Vincent Brussee. „Xi scheint alle Macht zu haben, die er braucht, um diese schwierigen Entscheidungen durchzusetzen. Je länger er wartet, desto schmerzhafter werden die Reformen. Sollte die chinesische Führung dem demografischen Wandel nicht wirksam etwas entgegensetzen, würde das die Legitimität der Zentralregierung gefährden – nicht nur in den Augen der Bevölkerung, sondern auch in den Augen der Parteikader." 

Mehr zum Thema: China’s demography is not destiny, von MERICS Senior Associate Fellow Bert Hofman

Medienberichte und Quellen:

Metrix

-46,9%

Nur halb so viele Menschen reisten im Vergleich zu 2019 während des Frühlingsfestes (春运) in China. Nach Behördenangaben lag in diesem Jahr die Zahl der Reisenden um 56 Prozent höher als 2022, aber 46,9 Prozent niedriger als im Jahr vor Pandemiebeginn. China ist noch nicht wieder zur Normalität zurückgekehrt. Die Menschen mieden Zugreisen aus Angst, sich mit dem Virus anzustecken und Verwandte zu infizieren. Die Zahl der privaten Pkw-Reisen lag indes um 14,6 Prozent höher als 2019.

Themen

Niederlande und Japan wollen sich bei Chip-Exportkontrollen mit USA abstimmen

Die Fakten: Drei Monate nachdem die US-Regierung Beschränkungen für den Export zentraler Halbleiter-Technologien nach China eingeführt hat, erklärten nun zwei wichtige Verbündete Washingtons, ihre eigenen Regeln mit jenen der US-Regierung abzustimmen. Am 27. Januar kündigten Japan und die Niederlande die Arbeit an neuen Regularien an. Beide Länder sind Heimat weltweit führender Hersteller von Halbleitertechnologien, darunter ASML, Tokyo Electron und Nikon. Das gemeinsame Vorgehen ist eine bemerkenswerte Entwicklung im Technologiekonflikt zwischen den USA und China. Bislang hat sich Washington vor allem auf einseitige Maßnahmen verlassen, um den Technologie-Abfluss nach China einzuschränken.

Der Blick nach vorn: Die kommenden Monate werden zeigen, wie stark die niederländischen und japanischen Regeln denen der USA ähneln. ASML geht nach eigenen Angaben in den Niederlanden von einem langwierigen Gesetzgebungsprozess aus und erwartet für dieses Jahr keine Auswirkungen auf seine Geschäftstätigkeit. Anders als die traditionelle Abstimmung politischer Maßnahmen über multilaterale Foren wie das Wassenaar-Abkommen sind in diesem Fall nur drei Märkte involviert, die in diesem spezifischen Technologiebereich besonders fortgeschrittene Fähigkeiten haben. Selbst wenn die drei Länder ihr Vorgehen nicht vollständig aneinander angleichen, dürfte die Koordination dennoch eine Blaupause für künftige Ausfuhrbeschränkungen sein.

MERICS-Analyse: „Kein Land will seine Unternehmen davon abhalten, Produkte an China zu verkaufen, wenn andere Länder dies weiter tun. Eine Abstimmung wie jetzt im Fall der USA, der Niederlande und Japan ist entscheidend, um einen Unterbietungswettbewerb zu vermeiden“, sagt MERICS-Experte Jacob Gunter. „Eine solche Koordination ist aus Beijings Sicht ein sehr ungünstiges Szenario und ein Versuch, Chinas technologischen Aufstieg zu behindern.”

Medienberichte und Quellen:

China will Dominanz in High-Tech-Lieferketten durch Exportbeschränkungen sichern

Die Fakten: China erwägt Berichten zufolge Exportbeschränkungen für Halbleiterprodukte zur Herstellung hochentwickelter Solar-Wafer. Das Land dominiert derzeit die weltweite Photovoltaik-Fertigung mit einem Anteil von 80 Prozent, bei den Wafern liegt er sogar bei 97 Prozent. Ein neuer Bericht der gemeinsamen Forschungsstelle der EU-Kommission weist darauf hin, dass die EU bei für Digitalisierung und grüne Technologien benötigten Materialien und Vorprodukten zu stark von China abhänge.

Der Blick nach vorn: Die betreffenden Wafer-Technologien werden in einem kürzlich veröffentlichten Katalog der Ministerien für Handel und für Wissenschaft und Technologie als „nicht frei" gekennzeichnet. Exporte sind dadurch zwar nicht verboten, müssen aber genehmigt werden. Weitere Ergänzungen betreffen Bereiche wie Laser-Technologien zur Abstandsmessung bei Fahrzeugen, synthetische Biologie, die Züchtung von hybriden Nutzpflanzen sowie Logistik. Die Behörden erwägen auch Exportverbote für Klon- und Gentechnologien. Durch die Aufnahme von Gütern in die Kontrollliste kann China seine technologischen Vorteile schützen – und womöglich einsetzen, um Lieferketten in die USA und nach Europa zu unterbrechen. Der Katalog wurde bisher nur 2008 und 2020 aktualisiert.

MERICS Analyse: „Die USA, die EU und andere Staaten versuchen, ihre Photovoltaik-Lieferketten zu diversifizieren. Beijing will seine Marktstellung verteidigen. China hat sein Exportkontrollsystem in den vergangenen Jahren erheblich ausgebaut. Es will Sicherheits-, Wirtschafts- und Industrieinteressen schützen angesichts des Drucks aus den USA im Technologiekonflikt. Beijing möchte sicherstellen, dass andere Länder nicht chinesische Technologien zur Stärkung der eigenen Industrie verwenden“, sagt MERICS-Analystin Rebecca Arcesati.

Mehr zum Thema: Diversification isn’t enough to cure Europe’s economic dependence on China, Kurzanalyse von Francesca Ghiretti und Hanns W. Maull

Medienberichte und Quellen:

Die Global-Gateway-Initiative der EU nimmt Form an

Die Fakten: 70 Projekte sollen der EU-Initiative „Global Gateway“ Gestalt verleihen und Chinas Neuer Seidenstraße etwas entgegensetzen. Wie die „Belt and Road Initiative“, kurz BRI, fokussiert Global Gateway derzeit vor allem auf den globalen Süden. Laut „Politico Europe“ sind 36 Projekte in Subsahara-Afrika vorgesehen, 14 in Lateinamerika und der Karibik, 13 in der Region Asien-Pazifik und sieben weitere in der Nachbarschaft der EU. Neben klassischen Infrastrukturprojekten sollen die Projekte Digitalisierung und die Entwicklung von Umwelttechnologien vorantreiben helfen. Die BRI wird 2023 zehn Jahre alt. Ob Beijing das Jubiläum mit einem Gipfeltreffen feiern wird, ist noch offen.

Der Blick nach vorn: Die EU muss eine Balance finden zwischen Ambitionen und Machbarkeit. Global Gateway wird nur erfolgreich sein, wenn die Initiative schrittweise und koordiniert umgesetzt und überzeugend kommuniziert wird. Xi Jinping hatte 2021 eine Neuausrichtung der BRI angekündigt und statt Großprojekten einen Fokus auf „kleine und schöne“ Vorhaben gelegt. Darauf scheint auch die EU zu setzen. Ob die EU und China 2023 auch bei Projekten zusammenarbeiten werden, bleibt abzuwarten. Selbst wenn das der Fall sein sollte, wird die Konkurrenz im Vordergrund stehen, was die Gefahr erhöht, dass beide ihren Partnerländern zu viel versprechen.

MERICS-Analyse: „Europa sollte die Lehren aus den ersten zehn Jahren der BRI ziehen und sich der Risiken unrealistischer Versprechungen bewusst sein,” sagt MERICS-Expertin Francesca Ghiretti. „Die EU wurde für fehlenden Ehrgeiz kritisiert und dafür, dass Global Gateway nur alte Projekte neu verpacke. Dennoch sind die Ankündigungen eine konkrete Grundlage, auch wenn sie einige Zeit auf sich warten ließen. Die Ziele sind ambitioniert, aber auch erreichbar.”

Medienberichte und Quellen:

Review

Chip War: The Fight for the World's Most Critical Technology von Chris Miller (Simon & Schuster 2022)

Chris Millers „Chip War“ ist eine unverzichtbare Lektüre für jeden, der sich fragt, warum Halbleiter zu solch einem wichtigen Thema der Geopolitik geworden sind. Der Autor erklärt die Bedeutung, die  Chips über das alltägliche Leben hinaus haben – das heißt, ihre Wichtigkeit für das Militär und die Industrie jeder Nation, die sie herstellen oder nutzen kann. Er konzentriert sich zunächst auf die USA und Sowjetrussland und nimmt dann Asien in den Blick, wobei er die Entwicklung der Industrie über mehrere Jahrzehnte reflektiert. Leider ignoriert er die wichtige Rolle Europas in dieser Geschichte.

Abgesehen von dieser Auslassung ist Millers historischer Überblick über die Entwicklung von Mikrochips der stärkste Teil des Buches. Eigentlich erfunden als Ersatz für Vakuumröhren in Waffen, erwiesen sich Halbleiter als nutzbar für alle möglichen anderen Dinge. Heute stammt nur noch ein kleiner Teil der Einnahmen der US-Hersteller aus Regierungsaufträgen, aber in den Anfängen waren sie auf deren Aufträge, zum Beispiel der NASA oder des Pentagon, angewiesen.

Bei der Beschreibung der jeweiligen Industriepolitik der USA, Japans, Taiwans und Chinas zeigt Miller, wie schwierig es ist, die Chips kommerziell rentabel herzustellen. Alle führenden Herstellerländer waren auf staatliche Unterstützung angewiesen, direkt durch Subventionen und Marktkontrollen oder indirekt durch öffentliche Aufträge. Obwohl die Armee in der Regel keine hochwertigen Chips verwendet, erklärt der Autor, warum Innovation nach wie vor militärisch wichtig ist.  Er entkräftigt überzeugend die gängige Annahme, dass die moderne Arbeitsteilung bei der Chipherstellung allein durch Marktkräfte geprägt wurde.

Millers Beschreibung des aktuellen Konflikts zwischen China und den USA ist weniger ausgereift. Der Autor sieht einen zweiten Kalten Krieg heraufziehen, begründet aber nicht ausreichend, warum der erste Krieg zwischen Sowjetrussland und den USA ein nützlicher Vergleich ist. Dieser Teil des Buches liefert viele interessante Beispiele, aber es fehlt ein roter Faden.

Rezension von Antonia Hmaidi

MERICS China Digest

Pfizers Covid-Medikament nimmt an Großausschreibung in China teil (Yicai Global)

Das antivirale Medikament Paxlovid ist eines von 343 Medikamenten, die sich um landesweite Distribution über Chinas Krankenversicherungssystem bewerben. (06.01.2023)

Wie TikTok seine Präsenz auf dem US-Markt absichern will (lawfareblog.com)

Seit einigen Jahren verhandelt die chinesische Plattform TikTok nun schon mit der US-Regierung wegen möglicher Sicherheitsrisiken. Der Lawfare-Blog berichtet von einem kürzlich abgehaltenen Briefing, in dem TikTok-Vertreter Details preisgaben, wie sie ihre Präsenz in den USA erhalten können.

Chinas Suchmaschine Baidu will ChatGPT-ähnlichen Bot einsetzen (Reuters)

Der Technologie-Riese will das Feature Berichten zufolge zunächst als separate Anwendung anbieten und schrittweise in seine Suchmaschine einbinden. (31.01.2023)